Die didaktische Konzeption

Die traditionell hohe Heterogenität der Berufsschulklassen erhöht sich seit einigen Jahren durch den zunehmenden Anteil von Auszubildenden mit Hochschulzugangsberechtigung und durch geflüchtete Menschen mit sehr stark variierenden Kenntnissen der deutschen Sprache und weiterer schulischer Kulturtechniken (vgl. Jahncke/Porath 2018, S. 54). Dadurch differieren die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler außergewöhnlich stark und damit auch ihre Chancen, das Ziel eines erfolgreichen Berufs(schul)abschlusses zu erreichen. Daher stellte sich uns die Frage, welche unterrichtlichen Rahmenbedingungen und Faktoren neben den bekannten Verfahren der Differenzierung (siehe z. B. Bönsch 2004, 2009) und der Individualisierung des Lernens (siehe z. B. Pahl/Tärre 2012) die Voraussetzungen für das Erreichen dieses Ziels verbessern können.

Um den unterschiedlich ausgeprägten sprachlich-kommunikativen Kompetenzen der Jugendlichen beim Eintritt in die Berufsausbildung angemessen zu begegnen, hat die Kultusministerkonferenz eine Empfehlung für sprachsensiblen Unterricht an beruflichen Schulen verfasst (vgl. KMK 2019). Hierin wird eine gezielte und reflektierte Verwendung der Sprache durch die Lehrkräfte intendiert, die an das Sprachniveau der Schülerinnen und Schüler angepasst ist (vgl. ebd. S. 5). Der Fachunterricht soll so gestaltet werden, dass den Lernenden Unterstützungen zum Verstehen und erfolgreichen Bearbeiten von Aufgabenstellungen an die Hand gegeben werden. Dafür hat Leisen (vlg. 2005, S. 21 ff.) Methoden-Werkzeuge mit einem Angebot an Sprachhilfen entwickelt. Diese Sprachhilfen umfassen z. B. Wortlisten und Wortgeländer für das Trainieren der sprachlichen Richtigkeit oder Satzbaukästen für die Steigerung der sprachlichen Komplexität.

Für die Gestaltung des Unterrichts erachteten wir außerdem die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung als bedeutsam, die im Bereich der beruflichen Erstausbildung an Berufsschulen im Bildungsgang Anlagenmechaniker SHK von Patzel (vgl. 2018) durchgeführt wurde. Hierbei wurde der Nutzen von Unterrichtsprinzipien und -methoden für das Bestehen der Gesellenprüfung im theoretischen Teil erfasst. Als wesentliche Erkenntnisse aus der Studie nennt Patzel u. a. folgende Zusammenhänge (vgl. ebd., S. 80 ff.):

Die Bestehensquote im theoretischen Teil der Gesellenprüfung verbessert sich …

•  um bis zu 10 %, wenn der Anteil an fachpraktischem Unterricht von 0 auf 20 % erhöht wird;

•  um bis zu 8 %, wenn etwa ein Viertel bis zur Hälfte des Unterrichts lehrerzentriert erfolgt, also mindestens 50 % bis maximal 75 % des Unterrichts schülerzentriert gestaltet wird;

•  um bis zu 6 %, wenn handlungsorientierte Methoden wie Gruppenpuzzle, Kugellager und Stationenlernen zum Einsatz kommen, aber nur, wenn diese häufig bzw. regelmäßig angewendet werden.

Als Voraussetzung für den Einsatz handlungsorientierter Methoden bzw. von Methoden des selbstgesteuerten Lernens weist Bonz (vgl. 2012, S. 97) darauf hin, dass Lernende die dafür erforderlichen Lern- und Arbeitstechniken beherrschen und Lehrende die Entwicklung dieser Werkzeuge auf Seiten der Lernenden in besonderem Maß fördern müssen.

Weitere relevante Hinweise für das Verbessern der individuellen Lernergebnisse und den Umgang mit Heterogenität liefert Leisen (2016, S. 21 ff.) mit dem Prinzip der „kalkulierten Herausforderung“: „Wenn Anforderungen den momentanen Fähigkeiten entsprechen und kalkuliert etwas über dem Bewältigungsniveau liegen, sodass die Aufgabenstellung mit Anstrengung erfolgreich bewältigt werden kann, dann findet der maximale Lernertrag statt“ (ebd., S. 22). Nach Wygotzky (1987, S. 83) führt die Aufgabenstellung in die „Zone der nächstmöglichen Entwicklung“. Um diesem Prinzip zu entsprechen, nennt Leisen zwei Möglichkeiten (Leisen 2016, S. 22):

„1. Unterstützung: Alle erhalten dieselbe Aufgabenstellung, aber mit individuellen Hilfen,
Materialien und Methoden.

2. Differenzierung: Die [Schülerinnen und] Schüler erhalten Aufgabenstellungen mit
unterschiedlichen Anforderungen, Materialien, Methoden.“

Eine weitere Möglichkeit sieht der Autor im kooperativen Unterricht (vgl. Leisen 2016, S. 29):

3. Kooperation: Die Schülerinnen und Schüler bilden heterogene Lerngemeinschaften und
erstellen Lernprodukte in Kooperation.

Die zuletzt genannte Möglichkeit der Kooperation soll verhindern, dass der Unterricht durch Differenzierung, aufgrund der sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, im Extremfall zur vollständigen Individualisierung des Unterrichts führt.

Leisen (vgl. ebd.) geht dabei davon aus, dass in dieser Form der inneren Differenzierung Interaktion und Austausch in der Lerngruppe selbstregulatorisch im Umgang mit Heterogenität wirken.

Weitere Differenzierungsformen können über einen bewussten Wechsel der Aktions- und Sozialformen oder nach Lernwegen und Zugangsweisen innerhalb der Gestaltung von Lernsituationen vorgenommen werden (vgl. Scholz 2010, S. 27 ff.). Die darauf bezogenen Interventionsstrategien ergeben sich aus der gewählten Methodik (wie?) sowie den personellen (wer?), den zeitlichen (wie lange?) und organisatorischen (wo, womit?) Ressourcen.

Als eine Variante der äußeren Differenzierung beschreibt Bönsch (vgl. 2009, S. 4) das Modell der flexiblen Differenzierung. Hierbei wird eine Lernsituation derart gestaltet, dass nach der Erarbeitung des Obligatorischen festgestellt wird, wer welche Ziele erreicht hat und wer welche noch nicht. Dann wird differenziert nach Schülerinnen und Schülern mit Lerndefiziten und nach solchen, die lernstark sind. Für die erste Gruppe werden Unterstützungen und Wiederholungsaufgaben angeboten und für die zweite Gruppe weiterführende Aufgaben. Als weiteres Modell existiert das des Settings, bei dem der Schwierigkeitsgrad der Aufgabenstellung in unterschiedliche Level eingeteilt und von möglichst homogenen Gruppen bearbeitet wird.

Alle Verfahren der Differenzierung stellen sehr hohe Anforderungen an die Lehrkräfte in Bezug auf Vorbereitungs- und Materialaufwand sowie das Organisations- und Klassenmanagement. Darüber hinaus ist der Einsatz von Instrumenten zur Kompetenzdiagnose erforderlich, um den individuellen Status quo zur ermitteln und angemessene Differenzierungen vornehmen zu können (vgl. Zoyke 2014, S. 50 f.).

Von dieser Gemengelage ausgehend ist es für uns wichtig, ein didaktisches Konzept zu verfolgen, das neben eigenen Erfahrungen und Vorstellungen hier genannte Kriterien berücksichtigt und der Unterschiedlichkeit der Lernenden besser gerecht wird. Wir möchten den Unterricht so gestalten, dass er möglichst Vielen für ihr Lernen geeignete Zugänge bietet, aber uns Lehrkräfte dabei nicht überfordert.

Nachfolgend werden die von uns verfolgten didaktischen Rahmensetzungen aufgeführt, die für die Gestaltung des ESIH und der Laborumgebung (vgl. Abb. 2) leitend waren und die es für die Anpassung und Erstellung der Lernsituationen sind:

•  in der Grundstufe werden verstärkt grundlegende Lern- und Arbeitstechniken geübt, im weiteren Verlauf der Ausbildung finden zunehmend handlungsorientierte Methoden wie Gruppenpuzzle, Stationenlernen und technische Experimente Anwendung;

•  ein Teil der Lernsituationen wird sprachsensibel vereinfacht und umgestaltet;

•  alle Lernsituationen, die Aufgabenstellungen für die Bearbeitung im ESIH oder der Laborumgebung beinhalten, sind so zu konzipieren, dass in Kleingruppen gleichzeitig an unterschiedlichen Themen und Aufgabenstellungen gelernt und gearbeitet werden kann;

•  zur Realisierung von innerer und äußerer Differenzierung entstehen an mehreren Orten Gruppenarbeitsplätze und Lerninseln mit PC;

•  die Kompetenzdiagnose erfolgt neben Beobachtungsverfahren, Tests und Austausch der Lehrkräfte, über die Ergebnisse der Selbstbeurteilung durch die Lernenden mit Hilfe von „Kann-Listen“;

•  das SHK-Labor sieht Trainingswände vor, an denen obligatorische und weiterführende (fakultative) Themen geübt und vertieft werden können;

das ESIH und die Laborumgebung bieten für alle Lernfelder der Fachstufen Lern- und Trainingsmöglichkeiten der prüfungsrelevanten Themen.
 
   

Literatur

 

Bönsch, M. (2004): Differenzierung in Schule und Unterricht. Ansprüche – Formen – Strategien. 2. Auflage. München: Oldenbourg.

Bönsch, M. (2009): Erfolgreicheres Lernen durch Differenzierung im Unterricht. Online: http://www.vbe-nrw.de/downloads/PDF%20Dokumente/Erfolgreicheres_Lernen_Bonsch.pdf (Zugriff am 24.08.2020).

Bonz, B. (2012): Methodenboom – Methodeninflation. In: Die berufsbildende Schule (BbSch) 64 (2012) 3, S. 94-97.

Jahncke H.; Porath J. (2018): Handlungsempfehlungen zur Beschulung von Flüchtlingen an berufsbildenden Schulen. In: Die berufsbildende Schule (BbSch) 70 (2018) 2, S. 54-59.

KMK (2019): Empfehlung der Kultusministerkonferenz für einen sprachsensiblen Unterricht an beruflichen Schulen. Online: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2019/2019_12_05-Sprachsensibler-Unterricht-berufl-Schulen.pdf (Zugriff am 25.08.2020).

Leisen, J. (2005): Richtige, reichhaltige und flüssige Sprache entwickeln. Online: http://www.josefleisen.de/downloads/sprachbildung/15%20Sprachhilfen%20f%C3%BCr%20Sch%C3%BCler%20mit%20Migrationshintergrund%20-%20NiU%202005.pdf (Zugriff am 25.08.2020).

Leisen, J. (2016): Ein Lehr-Lern-Modell für personalisiertes Lernen durch Ko-Konstruktion im adaptiven Unterricht in heterogenen Lerngemeinschaften. Online: http://www.josefleisen.de/downloads/lehrenlernen/01%20Ein%20Lehr-Lern-Modell%20zur%20Ko-Konstruktion%20-%20PHV%202016.pdf (Zugriff am 30.08.2020).

Pahl, J.-P.; Tärre, M. (2012): Individualisierung auch beim beruflichen Lernen? In: lernen & lehren, Heft 106, 2/2012, S. 46-48.

Patzel, O. (2018): Eignung und Nutzen von Unterrichtsprinzipien und -methoden. In: lernen & lehren, Heft 130, 2/2018, S. 78-84.

Scholz, I. (2010): Pädagogische Differenzierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Tredop, D.; Lühning, A. (2012): Individualisierungspfade im Lernfeld-Unterricht: Stationenlernen zum Thema „Sicherungsarmaturen“. In: lernen & lehren, Heft 106, 2/2012, S. 68-74.

Wygotski, L. (1987): Ausgewählte Schriften. Band 2: Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit. Köln: Pahl-Rugenstein.

Zoyke, A. (2014): Individuelle Förderung in der beruflichen Bildung: Umsetzungsmöglichkeiten und Herausforderungen für Lehrkräfte. In: Die berufsbildende Schule (BbSch) 66 (2014) 2, S. 48-52.